Für das Autor*inneninterview des Monats beehrte uns Anne Reinecke, die mit “Hinter den Mauern der Ozean” in der Bestenliste für April den fünften Platz belegt hat. Das Interview führte Aşkın.

Hallo Anne, beschreib dich doch bitte als Einstieg in drei Worten.
Hallo! Drei Worte: Kind, Kunst & Kaffee.
Was sind deine aktuellen Projekte und was sind deine größten Leidenschaften?
Ich habe angefangen, einen neuen Roman zu schreiben. Zwei Brüder werden darin vorkommen und 24 Quadratmeter Sperrholz (Birke, Fichte, Ahorn). Es soll ein Roadtrip werden und eine Spurensuche. Mehr verrate ich noch nicht.
Natürlich ist das Schreiben eine große Leidenschaft. Ich bin sehr froh und dankbar, in einer Welt zu leben, in der es Kunst gibt. Außerdem kann ich mich dafür begeistern, Fundstücke aufzusammeln, nach Hause zu tragen und dort einen würdigen Platz für sie zu finden (Treibgut und handverlesener Müll).

Was ist das Besondere an deinem neuen Buch “Hinter den Mauern der Ozean”?
Es gibt in dem Roman viel Raum, den ihr selbst füllen könnt, Fragen und Ungewissheiten, die sich nicht vollständig auflösen, zumindest nicht von selbst. Das Buch lässt euch beim Lesen große Freiheit. Das war mir wichtig, denn genau darum geht es.
Womit prokrastinierst du am liebsten?
Ich beantworte gern Interviewfragen. Ich lasse mir auch gern von Influencer*innen erklären, auf welche Weise ich mein Hemd in die Hose stecken soll, und so etwas. Manchmal google ich alte Bekannte, sehe mir an, was die so machen, und freue mich, wenn es etwas Schönes ist. Oder ich träume einfach vor mich hin.
Welches deiner Bücher sollten wir jetzt sofort aus welchem Grund lesen?
„Hinter den Mauern der Ozean“ natürlich! Ein sehr aktuelles Thema, das der Roman durchexerziert, ist, wohin rigorose Abschottung führt: Was wird von der Festung Europa bleiben? Wie wird Geschichte überliefert? Wer ist ausgestoßen, wer auserwählt? Wann kehren sich diese Rollen um? Wann entscheiden wir uns zur Flucht?
Und welches Buch (nicht von dir) sollte jede*r von uns lesen?
Allen, die in einer deutschen Familie aufgewachsen sind, oder die wissen wollen, wie das ist, empfehle ich „Erzählung vom Schweigen“ von Katharina Peter. Die Ich-Erzählerin gräbt sich durch ihre Familiengeschichte, die auch deutsche Geschichte ist, Großeltern, die im Nationalsozialismus Verbrechen begangen haben, Eltern, die an ihrer Verantwortung sich selbst und ihren Kindern gegenüber scheitern. Sie will herausfinden, was da unter den Teppichen liegt, was verschwiegen wird, warum die alle so sind, wie sie sind. Dabei ist sie hart und gnadenlos, sie schont niemanden, auch sich selbst nicht. Aber, und das habe ich vorher noch nie so gelesen, sie erzählt niemals von oben herab, kein einziges Mal hebt sie den Zeigefinger. Stattdessen ist es die Suche einer liebenden Tochter, die alles riskiert in der Hoffnung, dass am Ende ihres Stocherns unter den morschen und faulen Stellen etwas bestehen bleibt, was trägt. Das Ganze ist rhythmisch und fesselnd geschrieben. Ein großer Roman.

Was muss ein perfektes Buch überhaupt bieten?
Zum Glück müssen Bücher gar nicht perfekt sein. Sonst würden sie ja nie fertig. Beim Schreiben versuche ich immer, einen Text hervorzubringen, der wie eine Stimmgabel ist: Ich schlage sie an und setze sie auf, aber der Klang entsteht erst durch den Resonanzkörper, er entsteht in den Leser*innen, manchmal stimmt die Schwingung nicht überein, aber wenn es passt, wird ein Ton wahrnehmbar, und ab und zu, mit viel Glück, zerspringt auch etwas oder platzt.
Auch als Leserin suche ich nach Büchern, die so etwas in mir auslösen. Außerdem möchte ich mich beim Lesen ernst genommen und nicht unterfordert oder beschwichtigt fühlen.
Hattest du schon mal eine Schreib- und/oder Leseblockade? Was hat dagegen geholfen?
Ja. Wenn ich gerade mitten im Schreibprozess bin, kann ich nicht lesen. Der Klang der Lektüre mischt sich dann zu sehr in meinen eigenen Sound. Ich habe aber festgestellt, dass es hilft, auf Literatur auszuweichen, die möglichst weit von dem entfernt ist, was ich selbst gerade schreibe, inhaltlich, stilistisch und/oder zeitlich. Antike Texte, zum Beispiel, gehen meistens wunderbar.
Beim Schreiben hilft es, zu unterscheiden: Handelt es sich wirklich um eine Blockade? Oder ist es eher eine Phase, die Teil des Prozesses ist? – Wer einen großen Sprung machen will, muss schließlich vorher Anlauf nehmen. Genau so braucht es manchmal Zeit, um ein bisschen Distanz zu der vagen und deshalb perfekten Idee zu gewinnen, die man mit sich herumträgt, bevor man sich von der Perfektion verabschieden und die Geschichte aufschreiben kann. Das gehört dazu und muss gelassen hingenommen und als Teil der Arbeit betrachtet werden, finde ich. Wenn es allerdings ausartet, gibt es ein paar Tricks, die sich bewährt haben:
- Sich klarmachen: Die Geschichte will geschrieben werden, und wenn du es nicht machst, macht es niemand.
- Leuten von dem Vorhaben erzählen. Sie werden nachfragen und irgendwann wirst du ihnen etwas zeigen wollen.
- Kleine Ziele. Auf die nächste Seite kommen, zum Beispiel.
- Jeden Fortschritt feiern.
- Alles, was den Prozess spielerisch gestaltet und den Ernst herausnimmt, ist gut: Wenn es am Schreibtisch nicht klappt, setz dich ins Bett, aufs Sofa oder auf die Wiese. Musik hilft. Oder du lässt jemanden ein beliebiges Wort nennen und machst es dir zur Aufgabe, es in den Text einzubauen, das ist albern, aber es funktionier!
Was sollte sich im Literaturbetrieb ändern?
Was ungerechte Strukturen betrifft, unterscheidet sich der Literaturbetrieb nicht von der restlichen Gesellschaft. An vielen Stellen bewegt sich etwas, aber es braucht einen langen Atem.
Wie siehst du die Zukunft in 100 Jahren?
Ich bin keine Prophetin, ich traue mir keine Vorhersage zu, es gibt an den entscheidenden Stellen zu viele Variablen: Gelingt es uns, die Klimakatastrophe abzumildern? Wie werden wir mit ihren Folgen umgehen? Wie mit unweigerlich wachsenden Migrationsbewegungen? Wie werden sich die großen Machtblöcke neu sortieren? Droht ein Zusammenbruch der Weltwirtschaft? Ein Atomkrieg? Und wenn ja, was würde darauf folgen? Wie werden wir mit künstlicher Intelligenz umgehen? Wie wird künstliche Intelligenz mit uns umgehen? Ich weiß das alles nicht. Ich bin nicht allzu optimistisch. Aber es wird zu jeder Zeit etwas geben, wofür es sich zu leben lohnt.
Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast!
Wo ist Anne Reinecke zu finden?
Offizielle Website | und auf dem Tempelhofer Feld in Berlin.
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