oder: Wie fehlendes Wissen über Autorinnen deren Arbeit schmälert
Ein Gastbeitrag von Nora Bendzko
Wenn man mich fragen würde, welche Worte mir klargemacht haben, dass ich eine Frau bin, würde ich sagen: „Du kannst nicht …“ Ein Satz, der mich bis in mein Schreibleben begleitet und als Autorin geprägt hat.
Wie er beim ersten Mal endete, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich war es etwas ganz Banales, wie dass ich nicht mein T-Shirt ausziehen kann, anders als mein Bruder. Und eben weil es so banal war, konnte ich es nicht verstehen.
Ich fragte, warum ich nicht kann.
Damals habe ich keine klare Antwort bekommen, weder von meinen Eltern, Lehrern noch anderen Erwachsenen. Versuche von Erklärungen endeten in Schlussworten, die mehr oder weniger besagten: „Das ist halt so.“
Es war unbefriedigend, doch ich dachte nicht weiter darüber nach. Denn es deutete ja nichts in meiner Kindheit darauf hin – zumindest nicht offensichtlich –, dass etwas nicht stimmte.
Es dauerte sehr, sehr lange, bis ich begriff, warum es „eben so ist“. Denn kaum jemand vervollständigte den Satz ehrlich: „Du kannst das nicht, weil du ein Mädchen bist.“
Du weißt was, das ich nicht weiß
Annahmen, warum ein Mädchen etwas nicht kann, basierten auf einem seltsamen Allgemeinwissen, das jeder außer mir zu haben schien und doch niemand nachvollziehbar erklären konnte. Eigenschaften, die Mädchen und Jungen grundsätzlich unterschieden, was sie tun, wie sie sich anziehen, was sie mögen. Ich wuchs mit der Implikation auf, dass dies Tatsachen seien. Du hast nicht mitzureden, wenn du etwas anderes willst. Denk nicht mal dran und mach erst recht keinen Ärger.
Dabei würde ich sagen, dass meine Schwester, mein Bruder und ich von unseren Eltern gleich behandelt wurden. Lange schliefen wir im selben Zimmer, teilten uns Spielzeuge und Freundeskreis. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ich als Heranwachsende in dem Glauben lebte, in einer fraglos gleichberechtigten Welt zu leben.
Heute glaube ich das nicht mehr.
Unaufhörlich hat es mich begleitet, dieses: „Du kannst nicht.“ Und was banal begann, wuchs sich dermaßen aus, dass es phasenweise zu einer schier unüberwindbaren Grenze wurde. Vor allem meine Sexismus-Erfahrungen als Sängerin, die vor einiger Zeit in eine öffentliche Vergewaltigungsdrohung gipfelten, zeigten mir dies. Aber auch ein besonders einschneidendes Erlebnis, das ich als Jungautorin hatte.
Damals hatte ich mich im Rindlerwahn-Autorenforum angemeldet, das es inzwischen nicht mehr gibt. Ich beschloss, dort keine persönlichen Daten anzugeben. Vielleicht sagte mir etwas, dass ich sonst voreingenommen behandelt würde.
Von Schein, Sein und Hasen
Ich wählte den Nickname „DunkelPoet“. Keine Geschlechtsangabe, kein Geburtsjahr. Ich gab nur an, was mich schriftstellerisch interessiert.
Die Reaktionen darauf werde ich nie vergessen. Jeder dachte bei meinen Horror- und Dark-Fantasy-Texten, dass ich ein Mann sei. JEDER. Die meisten glaubten anhand meines Stils und meiner Wortwahl gar einen Mann in den 30ern oder 40ern zu erkennen. Ich war 17.
Mit der Zeit wurde ich recht aktiv und bekannt im Rindlerwahn-Autorenforum, wurde dort schließlich Moderatorin für die Textüberarbeitungsrubrik. Irgendwann beschloss ich, mich zu „outen“. Und auch die Reaktionen darauf sind unvergesslich für mich.
Viele waren über mein Geschlecht und Alter geschockt. Über Monate hatten sie sich ein Bild über mich gemacht, das nicht mit ihren Vorstellungen über eine junge Frau zusammenpasste. Eine überraschende Lektion für alle, sollte man meinen – aber so wollten das einige nicht sehen.
Ich durfte nach dieser Enthüllung einen deutlichen Unterschied in meiner Behandlung feststellen. Gerade ältere Autoren taten sich plötzlich schwer mit meiner Position als Moderatorin. Auf einmal wurde mein junges Alter gegen mich verwendet und dass mir aufgrund dessen Expertise fehle. Ein Kollege, mit dem ich monatelang Manuskripte ausgetauscht hatte, begann seine Mails von einem Tag auf den anderen, nachdem er von meinem Geschlecht erfuhr, mit: „Hallo, Hasi.“
Wieder bestimmte er mein Leben, dieser verhasste Satz. Du kannst nicht. Weil jeder weiß ja, dass Frauen einfacher und lieblicher schreiben, eine ganz eigene Sprache haben, und überhaupt. Du kannst nicht so dunkel, anspruchsvoll, gut sein. Du kannst meinen Respekt auf Augenhöhe nicht haben.
Die Fronten von Autorinnen
Mein Eintritt ins Rindlerwahn-Autorenforum war 2013, die Sache ist also einige Jahre her. Geändert hat sich wenig.
Das Klischee, Frauen könnten vornehmlich oder nur Romantisches schreiben, bleibt hartnäckig am Leben. Was sie bei Genres wie Science-Fiction zu Pseudonymen drängt, umgekehrt greifen Männer beim Liebesroman zu weiblichen Namen, wie die Federwelt berichtet.
Aktuell geht der Hashtag #dichterdran auf Twitter um, bei dem dazu aufgerufen wird, über Autoren zu schreiben, wie es sonst nur bei Autorinnen in Rezensionen und im Feuilleton geschieht. Anlass dafür war ein Literaturkritiker, der die Schriftstellerin Sally Rooney bei der Besprechung ihres neuesten Buches als „aufgeschrecktes Reh mit sinnlichen Lippen“ bezeichnete. Demnach steht bei Frauen öfter als bei Männern nicht der Text, sondern da Aussehen im Fokus.
Ebenfalls aktuell ist das Buchprojekt „Unknown – Erzählungen unbekannter Herkunft“, bei dem sich mehrere Autor*innen anonym zusammengeschlossen haben, um zu zeigen, dass Merkmale wie Geschlecht sich nicht nachweislich auf Geschichten auswirken. Sie veröffentlichten auch einen Artikel, der sexuelle Belästigung im Literaturbetrieb anprangert.
Die Studie #frauenzählen stellt fest, wie alarmierend unterrepräsentiert Frauen in der Buchbranche sind: „Autoren und Kritiker dominieren den literarischen Rezensionsbetrieb: Zwei Drittel aller Rezensionen würdigen die Werke von Autoren […]. Einzig das Kinder- und Jugendbuchgenre erscheint als ausgeglichenes Genre […].“
Diese Missstände sind bekannt, doch das bedeutet nicht, dass sie als solche akzeptiert werden. Zusätzlich zu „Du kannst nicht“ und „Das ist halt so“ kommt die Haltung: „Das muss nichts heißen.“ Hier scheiden sich die Geister zwischen jenen, welche genannte Missstände als Teil eines ineinander zahnenden Systems sehen, das man hinterfragen sollte – und jene, die das eben nicht tun. Letztere haben meist kein Verständnis für Besserungsbemühungen, frei nach dem Motto: „Wenn Frauen erfolgreicher sein wollen, sollen sie halt besser schreiben.“
Ein Ort zum Schreiben
Nach dieser Logik sind Autorinnen-Kollektive wie die Mörderischen Schwestern oder das Nornennetz (von dem ich selbst Mitglied bin) unnötig – würden die Mitgliederinnen besser schreiben, müssten sie sich nicht beschweren und zusammentun. Dabei haben sie gute Gründe, Teil jener Gruppierungen zu sein. Sei es, dass sie Ähnliches wie ich, Diskriminierung oder sexuelle Belästigung im Literaturbetrieb erfahren haben.
Man hat Glück, wenn man nicht auf ein Kollektiv angewiesen ist. Wenn man keinen Ort braucht, wo man sicher vor der Möglichkeit von Diskriminierung und Übergriffen ist und im Fall des Falls Rückhalt bekommt. Ein Ort, der einem die Ruhe zum guten Schreiben erst ermöglicht.
Den Wunsch danach mit einem „Schreib halt besser“ abzutun, zeugt von einer gewissen Perfidie. Damit wird eine Literaturgeschichte ignoriert, die Autorinnen systematisch an den Rand gedrängt hat.
Zunächst einmal durften sie kaum bis gar nicht veröffentlichen. Dann, als sie es durften, hieß es, dass ihnen der Intellekt für Großes und Emotionales fehle. Als sich herausstellte, dass sie sehr wohl über Gefühle schreiben können – brillant sogar –, wurde das, was noch in Zeiten der Romantik als kunstvolle Sensibilität seitens der Männer galt, zu Kitsch degradiert. Heute spiegelt sich das in Groschenromanen wider und der Tatsache, dass Romance zur billigsten Literatur gehört, obwohl es der kaufstärkste Literaturmarkt mit der größten Nachfrage ist.
Manches Wissen ist gleicher als anderes?
Wie kommt es, dass diese Entwicklungen übersehen und abgetan werden? Ich erkläre es mir mit Verdrängung, aber auch mit fehlendem Wissen. Wem das Ausmaß der Punkte, wie ich sie aufgeführt habe, nicht bekannt ist, der kann leicht sagen: „Schreib halt besser.“ Aber nicht nur fehlendes Wissen über weibliche Marginalisierung ist ein Problem, sondern auch fehlendes Wissen über das, was Frauen geschaffen haben.
Dies ist mir in den letzten Monaten mit der wiederaufgelebten Diskussion um #wikifueralle klargeworden. Begonnen hat sie mit dem Versuch von Theresa Hannig, eine Liste von Science-Fiction-Autorinnen auf Wikipedia zu erstellen – die im Englischen existiert, doch im Deutschen fehlte. Ihre Bemühungen stießen auf erstaunlich großen Widerstand. Die Liste wurde fast umgehend zur Löschung vorgeschlagen. Das Urteil lautete fehlende Relevanz, genauer: „Überflüssige Liste, die Redundanzen schafft, vom Inhalt her unklar und vom Konzept her dubios ist.“
Daraufhin entstand eine erhitzte Diskussion um Wikipedia, dessen Deutungshoheit und die systematische Unsichtbarmachung von Frauen. Die Wogen gingen erneut hoch, als die Wikipedia-Seite des Nornennetzes gelöscht wurde. Wieder wurde mit fehlender Relevanz argumentiert, unter anderem von demselben Mann, der sich schon für die Löschung der SciFi-Autorinnen-Liste aussprach.
Auf den ersten Blick scheinen Relevanzkriterien, um eine Seite wie Wikipedia zu regulieren, sinnvoll. Tatsächlich können sie aber so strukturiert sein, dass sie gewisse Gesellschaftsgruppen benachteiligen. So müssen bei Wikipedia mehrere überregionale Quellen, Veröffentlichungen oder Auszeichnungen gegeben sein, damit man als Autorin einen Artikel bekommen kann. Doch Studien wie #frauenzaehlen zeigen, dass Autorinnen in ebendiesen Bereichen weniger Anerkennung finden als Männer. Romance als marktstärkstes Genre von und für Frauen wird immer größer im Selfpublishing, aber die Relevanzkriterien beachten nur Verlagsveröffentlichungen. Hier liegt ein historisch gewachsenes Problem im System vor.
All diese Dinge führen dazu, das schreibende Frauen tendenziell weniger Chance auf einen Artikel haben. Auch queere, nicht-weiße und anderweitig Marginalisierte sind von dieser Problematik betroffen, die Wikipedia seit Jahren bekannt ist. So eifrig, wie manche Wikipedianer gewisse Themen löschen wollen oder anderweitig behindern, muss man sich fragen, ob hier nicht vorsätzlich Wissen über Minderheiten kleingehalten wird.
Verwischte Frauengeschichte
Die „freie Enzyklopädie“, wie sie sich nennt, dürfte immer noch zu den meist genutzten Quellen der Welt gehören. Aber auch über Wikipedia hinaus werden Autorinnen weniger besprochen als Autoren, wie #frauenzaehlen zeigt. Entsprechend ist es nicht verwunderlich, wenn manche zu dem Glauben kommen, Frauen schaffen nicht so viel wie Männer. Wie soll man auch von jemandem wissen, dessen Werk nicht offiziell dokumentiert wird?
Eben dies ist, was ich als „fehlendes Wissen“ bezeichne. Es führt zu der Falschannahme, dass Frauen nichts schaffen, was wiederum als Legitimation genutzt wird, ihnen nichts zuzutrauen und weniger mediale Beachtung zu schenken. Ein Teufelskreis.
Besonders verheerend sind die Vorurteile, die damit einhergehen können. Auch außerhalb der Literaturszene gibt es immer wieder Fälle, wo Frauen im Vornherein Fähigkeiten abgesprochen, oder schlimmer, gar nicht erst in Betracht für sie gezogen werden. So stellte sich vor ein paar Monaten ein berühmter Wikinger-Krieger als Frau heraus. Jahrzehntelang prüfte niemand, ob es sich wirklich um einen Mann handelt. Man ging wegen der kriegerischen Grabbeigaben einfach davon aus. Die Bioarchäologin Anna Kjellström, die als Erste eine Frau in den erhaltenen Knochen zu erkennen glaubte, wurde zunächst missachtet. Der Glaube an eine Geschichte, in der Frauen nichts Großartiges getan hätten, kann also selbst Fakten über ihr Schaffen verwischen, wenn wir diese direkt vor uns haben.
So fängt es an in der Kindheit mit: „Du kannst nicht, weil das weiß man ja.“ Und hört mit der Lüge im Erwachsenenleben auf, dass niemand Frauen etwas abspricht und sie sich einfach mehr anstrengen müssten.
Die Frage ist jetzt: Was tun?
Wie lässt sich dieser Zirkel durchbrechen?
Meiner Meinung nach sind der Knackpunkt nicht ausschließlich Institutionen wie Wikipedia, wenngleich diese sich weiterentwickeln müssten. Das Problem liegt auch in unserer Gesellschaft und uns als Individuen. Um die historischen Strukturen aufzubrechen, in die Autorinnen gezwängt wurden, muss man erst einmal eines tun: sie zugeben.
Was sich tun lässt
Unsere Gesellschaft muss aufhören, zu sagen, dass es nie große Frauen gegeben hätte, und die viel größere Wahrscheinlichkeit akzeptieren, dass unser Wissen über sie vorsätzlich verwischt und zerstört worden ist. Sei es, weil sie historisch verdrängt wurden oder etwaige Relevanzkriterien nicht erfüllen konnten.
Ferner müssen wir unser Wissen hinterfragen – was man in Zeiten von Fake News ohnehin nicht genug tun kann. Wie sind die Kriterien, mit denen es festgehalten wird, gestaltet? Derart, dass einige weniger Chancen haben, Wissen über sich weiterzugeben? Wenn die Antwort Ja ist, sollte man den weniger Sichtbaren Gehör schenken.
Zuletzt müssen wir das Wissen über jene, die unsichtbarer sind, verbreiten. Wenn wir eine Geschichte über eine Kriegerin kennen, müssen wir sie unseren Töchtern erzählen. Auf dass sie der kategorisierenden Falschannahme, dass es nie große Frauen gab, etwas entgegenzusetzen haben. (Zum Einlesen sei hier die Artikelreihe „100 Women who changed the world“ vom BBC History Magazine empfohlen.)
Vor allem dürfen wir uns nie verleiten lassen, zu sagen, dass etwas nicht existierte, um andere damit einzuschränken. Eine solch absolute Aussage können wir ohnehin nicht treffen bei den Abermillionen von Menschen, die es gab und gibt. Mehr als alles andere ist dies eine Ausrede, um nicht über den eigenen Tellerrand schauen zu müssen. Diese Haltung passt nicht zur Literatur und schon gar nicht zu meinem Genre, der Phantastik, die neue Welten erschließen will.
Was gute Geschichte(n) ausmacht
Obwohl ich noch so jung bin und keinen Kinderwunsch habe, denke ich manchmal daran, wie es mit einer Tochter wäre. Ich weiß nicht, ob ich ihr die Verwirrung ersparen könnte, die ich in jungen Jahren hatte. So gerne würde ich ihr ohne Bedenken sagen: „Du kannst alles!“
Aber ich weiß, dass die Welt ihr diese Freiheit nicht so einfach lassen wird. Trotzdem werde ich nicht sagen: „Das ist halt so.“ Denn wenn ich eines gelernt habe in den letzten Jahren als Autorin, ist es Folgendes: Ein hingeklatschtes Buch, das keine befriedigenden Antworten liefert, ist nicht gut.
So ist es auch mit dem Leben. Es kann nur gut sein, wenn einem Erklärungen für die großen Dinge nicht vorenthalten werden.
Lasst uns anderen kein Wissen vorenthalten.
Lasst uns eine bessere Geschichte schreiben.
Unsere Gastautorin findet ihr hier: Website | Twitter | Youtube
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Katharina Gerlach meint
Aus tiefstem Herzen: Danke!!!
split meint
Ein wirklich guter Artikel. Es ist einfach schade, dass alles darin wahr ist und nur an der Oberfläche dessen kratzt, was da noch an Misständen da draußen lauert.
Danke, dass du deine Gedanken dazu geteilt hast.