Im vergangenen Monat erreichte uns von Twitter Kritik bezüglich des Titels auf Platz 1 der Bestenliste. Es handelte sich um einen historischen Fantasyroman, der im viktorianischen London spielt und Leser*innen durch seinen anti-asiatischen Rassismus ins Auge stach. Die Phantastik-Bestenliste hat zum Ziel, die gesamte Bandbreite phantastischer Literatur abzubilden und soll auch mit dem einschlägigen Blick der deutschen – und auch internationalen – Phantastikszene brechen, insofern nehmen wir diese Rückmeldung sehr ernst und möchten die Fragen dazu gerne beantworten.
Was ist geschehen?
Die Darstellung von historischem Rassismus ist ein viel diskutiertes Thema, an dem auch die Phantastik nicht vorbeikommt. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie man den historischen Rassismus der Zeit, zu der einer Geschichte spielt, akkurat darstellen kann, ohne ihn in dieser Darstellung zugleich zu reproduzieren. Dabei können viele Aspekte eine Rolle spielen: Wie drastisch ist der dargestellte Rassismus? Ist er relevanter Teil der Handlung oder soll er im Dienste einer vorgeschobenen historischen Korrektheit zum Realismus des Settings beitragen? Was kennzeichnet ihn als historisch und werden seine Auswirkungen reflektiert? Und nicht zuletzt: Geht der Text von einer weißen Leser*innenschaft aus, bei der die reproduzierten Beleidigungen keine schmerzhaften und allzu gegenwärtigen Assoziationen weckt?
Natasha Pulleys Roman Der Uhrmacher aus der Filigree Street ist ein Beispiel für genau diese Schwierigkeiten. An der Oberfläche mag er gut gemeint sein: Protagonist Nathaniel Steepleton lernt den Uhrmacher Keita Mori kennen und gemeinsam ermittelt das Watson-und-Holmes-Gespann in London und Japan. Im Laufe der Zeit verändert sich dabei die vorurteilsbehaftete Sicht des Protagonisten auf seinen Freund. Dem historischen Rassismus, der den japanischen Figuren permanent entgegengebracht wird, ist Pulley als Autorin allerdings nicht gewachsen. Rassistische Formulierungen und Vorstellungen bleiben mitunter unkommentiert und perpetuieren Vorurteile, mit denen asiatische Menschen bis heute zu kämpfen haben. Entsprechend zeigten sich einige Personen verwundert oder verärgert, diesen Titel auf Platz 1 der Liste vorzufinden.
Zwei Einwände, die manche Leser*innen anbringen könnten, möchten wir an dieser Stelle gern direkt beantworten: Es liegt nahe, Kritik an historischen Romanen mit einem lakonischen „Das war damals eben so“ abzutun. Über die vermeintliche historische Korrektheit und die bewusste Auswahl, die eben automatisch doch wieder ein ganz bestimmtes Bild vermitteln soll, ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Ausdrücklich verweisen möchten wir an dieser Stelle auf die Aufsätze von Aurelia Brandenburg. Letztendlich läuft jedoch alles auf die unvermeidliche Gegenfrage „Weshalb muss es in einer Fantasywelt, die sich alle historischen Tatsachen beliebig herauspicken kann, Rassismus geben?“ hinaus.
Der andere Einwand hat etwas mehr Substanz: Wenn es dem Roman in letzter Konsequenz darum geht, den dargestellten Rassismus zu kritisieren und damit zu brechen, ist er doch nur erzählerisches Mittel zu einem guten Zweck. Letztendlich wird doch mit Keita Mori eine japanische Figur zum Helden gemacht und sehr positiv dargestellt. Dies rührt an das Problem aller Erzählungen, die Rassismus ausführlich und detailliert darstellen, um ihn anschließend zu brechen: Subversion erfordert Reproduktion und man muss sich in diesem Fall die Frage stellen, für wen hier Rassismus reproduziert wird.
Natürlich gibt es Romane, die sich intensiv mit der Auswirkung auseinandersetzen, die historischer Rassismus auf die von ihm betroffenen Menschen hatte, und diesen Rassismus auch zeigen. In unserem Fall handelt es sich hingegen primär um einen Unterhaltungsroman, der zwar am Rande zu einer Auseinandersetzung mit japanischer Kulturgeschichte einlädt, seine Schwerpunkte jedoch eindeutig woanders setzt. Das bedeutet, weiße Leser*innen können den Roman genießen, ohne sich wegen der rassistischen Passagen schlecht zu fühlen, im Bewusstsein, dass sie es natürlich besser wissen als die rückständigen Figuren aus der Vergangenheit, während sich PoC in ihrer Unterhaltungslektüre ständig mit dem konfrontiert sehen, dem sie in ihrem Alltag bereits ausgesetzt sind und das sie nicht auch noch in ihre Freizeitbeschäftigung hinein verfolgen muss.
Kurz gesagt: Das Problem entsteht nicht, wenn ein Roman Rassismus thematisiert, sondern genau dann, wenn ein Roman Rassismus auf eine Weise thematisiert, die für weiße Leser*innen unterhaltsam ist, aber für PoCs schmerzhaft oder unangenehm ist.
Wir gehen so sehr ins Detail, um deutlich zu machen, dass es sich bei der Kritik nicht um irgendeine Form von „Cancel Culture“ (eine Bezeichnung, die längst zum rechten Kampfbegriff geworden ist) handelt, bei der ein gut gemeinter aber in letzter Konsequenz schlecht umgesetzter Roman „geblacklisted“ wird. Der Uhrmacher aus der Filigree Street befand sich bereits seit mehreren Monaten auf der Bestenliste und dass die steigende Popularität zu Kritik und Rückfragen führte, ist nur natürlich. Wir möchten uns als Jury ganz herzlich für alle Rückmeldungen bedanken, die wir in dieser Sache erhalten haben.
Wie konnte dieses Buch dann auf Platz 1 kommen und hat sich wirklich niemand daran gestört?
Wie viele Literaturjurys entsteht auch die Phantastik-Bestenliste über ein Punktesystem. Jedes Jurymitglied nominiert bis zu vier Romane mit 1, 3, 5 oder 7 Punkten und die meistnominierten Titel werden nach Punktzahl geordnet. Die finale Liste liegt uns allen frühzeitig vor, eine abschließende Diskussion findet in den seltensten Fällen statt. Das bedeutet: Es hat nicht jedes Jurymitglied jeden nominierten Roman gelesen. Letzteres wäre auch überhaupt nicht gewollt, denn die Liste lebt von Vielseitigkeit, die sich auch in den Lesevorlieben der Jury ausdrückt, und nur so könne wir eine möglichst große Anzahl der vielen phantastischen Neuerscheinungen bewältigen.
Das bedeutet nicht, dass eine solche abschließende Diskussion über unseren Platz 1 vom letzten Monat nicht hätte geben können und sollen. Die nominierenden Parteien hatten den Roman als gut gemeint gelesen und waren für die oben ausgeführte Problematik nicht sensibel. Zugleich war der Roman den übrigen Jurymitgliedern schlicht nicht bekannt, sodass für viele von uns die Rückmeldung von Twitter zu einer ersten Auseinandersetzung mit dem Inhalt führte.
Dies ist auch der eine Punkt, in dem wir unseren Kritiker*innen respektvoll widersprechen möchten: Es handelt sich bei Der Uhrmacher aus der Filigree Street nicht um einen Roman, dessen Erscheinen von einer regen und deutlich vernehmbaren Kontroverse begleitet wurde. Er stellt nur einen unter vielen historischen Fantasyromanen dar, die an einem angemessenen Umgang mit der Darstellung von historischem Rassismus scheitern, und wurde entsprechend verhalten rezipiert. Twitterdiskussionen, gerade wenn sie ohne Hashtag oder Suchbegriff geführt werden, sind nachträglich schwer zu rekonstruieren und gewährleisten keine breitere Öffentlichkeit.
Uns ist aber bewusst, dass die Kommunikation über unseren Twitter-Account an den folgenden Tagen nicht optimal lief. Wir möchten dafür bei allen Beteiligten um Entschuldigung bitten. Wir wollten schnell reagieren, ohne einen Überblick über die gesamte Situation oder auch den tatsächlichen Inhalt des Buchs zu haben. Rassismus sollte nicht als subjektiver Leseeindruck dargestellt werden. Dass dieser Eindruck von unserer Jury entstanden ist, wird von uns entsprechend aufgearbeitet.
Wie wird die Phantastik-Bestenliste nun damit umgehen?
Zunächst müssen wir uns ein weiteres Mal bedanken, und zwar dafür, dass ihr so lange und geduldig auf unser Statement gewartet habt. In den vergangenen Wochen haben wir uns ausführlich mit dem Vorfall auseinandergesetzt und darüber ausgetauscht, was wir daraus lernen können und wie er uns helfen kann, die Juryarbeit der Phantastik-Bestenliste noch zu verbessern. Dies hat einiges an Zeit in Anspruch genommen, aber es war uns wichtig, alle zu Wort kommen zu lassen und uns eine angemessene Zeit zum Nachdenken einzuräumen. Eine schnelle Entschuldigung, die zwar einen guten Eindruck macht, aber nicht mit tatsächlichen Veränderungen einhergeht, ändert nichts an den Verhältnissen, zu denen wir letzten Monat aktiv beigetragen haben.
Zunächst einmal ist uns sehr deutlich geworden, dass wir die Jury der Phantastik-Bestenliste erheblich erweitern müssen. Indem wir aktuell die deutsche Phantastik-Szene abbilden, wie sie ist, und nicht, wie sie ohne ihre Geschichte vielfältiger Marginalisierungen sein könnte, repräsentieren wir lediglich den Status quo. In den kommenden Monaten wird es zu mehreren Initiativen kommen, in deren Rahmen wir unsere Reihen um neue Mitglieder erweitern wollen. Es geht uns erklärtermaßen nicht darum, einzelne marginalisierte Stimmen gleichsam als Feigenblätter hinzuzunehmen, sondern der Vielstimmigkeit und Multiperspektivität einer zukünftigen deutschen Literaturszene gerecht zu werden.
Während uns die Autonomie und Unabhängigkeit der einzelnen Jurymitglieder wichtig ist und die Entscheidung der Punktevergabe letztendlich bei den einzelnen Personen liegt, hat der aktuelle Fall klargemacht, dass wir bereit sein müssen, viel kritisierte Titel intern zu diskutieren, bevor diese auf der Liste landen. Eine sichtbare politische Debatte um eine Neuerscheinung ist für sich genommen selbstverständlich kein Ausschlusskriterium. Das unreflektierte Verbreiten rassistischer, sexistischer, queerfeindlicher oder ableistischer Stereotype aber läuft dem erklärten Ziel der Bestenliste, das literarische und auch gesellschaftliche Potential phantastischer Literatur aufzuzeigen und zu fördern, entgegen. Wir werden daher künftig frühzeitig ins Gespräch gehen, sodass in Zweifelsfällen die gesamte Jury die Platzierung beeinflussen kann.
Damit geht einher, dass wir ein offeneres Ohr für Debatten und Kritik rund um phantastische Literatur auch jenseits großer Portale und Zeitschriften haben müssen. Das ist uns bewusst und wir werden uns bemühen. Wir würden euch an dieser Stelle gerne versprechen, dass wir nie wieder etwas übersehen und ein solcher Fall nie wieder vorkommt, aber wir leben in Strukturen, die historisch derart vorbelastet sind, dass wir ein solches Versprechen nicht geben können. Wir alle haben Baustellen, an denen wir so gut es geht arbeiten, aber dieser Lernprozess ist längst nicht abgeschlossen. Was wir versprechen können, ist, dass wir versuchen werden, es besser zu machen. Und wir versprechen, dass wir weiterhin unser Auge daraufhin schulen und auch auf kommende Kritik entsprechend sensibel reagieren werden.
Die Jury
Eva Bergschneider meint
Phantastisch- lesen hat die Autorin Natasha Pulley im Interview um Stellungnahme zu dieser Kontroverse gebeten. Wen es interessiert, diese findet ihr in den Antworten zu den Fragen 12 und 13. “Interview mit Natasha Pulley auf phantastisch-lesen” https://phantastisch-lesen.com/interview-mit-natasha-pulley/