Das sind die besten phantastischen Romane der letzten 12 Monate. Jeden ersten Freitag im Monat stellen unabhängige Literaturkritiker*innen und Phantast*innen die besten Romane des Genres vor.
R. F. Kuang erzählt in ihrem Roman “Babel” von der dunklen Seite eines fiktiven Oxford der 1830er Jahre. Im Institut für Übersetzung werden hier Übersetzungen in Silberbarren graviert, die dann eine magische Wirkung entfalten und dem britischen Empire zu seiner Macht verhelfen. Doch dann sind da vier neue Studierende des Instituts, die aus den britischen Kolonien stammen und einen anderen Blick auf die Welt und das Empire haben.
Wie schon in ihrer Reihe “The Poppy War” erzählt Kuang eine Geschichte, die als fröhliche “begabte Jugendliche kommen an eine Schule”-Story beginnt, irgendwann aber einen sehr dunklen Dreh nimmt. Diesmal geht es um Sprache und Übersetzung, die Macht des Empire und die Unterdrückung der Kolonien.
CN: Alkohol- & Drogenkonsum, Blut, Emeto, Gewalt an Kindern, Klassismus, Kolonialismus, körperliche & psychische Gewalt, Misogynie, Mord, Rassismus, Sklaverei, Verlust und Tod von Familienmitgliedern
Platzierung im Vormonat (1)
In ihrer Terra-Ignota-Reihe zieht die Historikerin Ada Palmer eine direkte Linie von der europäischen Aufklärung bis ins 25. Jahrhundert und entwirft eine ideengeschichtlich informierte Utopie ohne Staatsgrenzen, in der Religion strenge Privatsache ist. Doch die schöne Fassade bröckelt und so tritt der geläuterte Serienmörder Mycroft Canner auch im zweiten Band als Chronist einer Zeit politischer Spannungen und sozialer Unruhen auf, die den Jahrhunderte währenden Frieden auf der Erde in Gefahr bringen. Denn während schillernde Gestalten ihre politischen Intrigen spinnen und eine machiavellische Bordellbetreiberin ein Machtmonopol errichtet, geht die wahre Gefahr von Mycrofts Schützling aus, einem magischen Kind, das die ganze Welt in eine Glaubenskrise stürzen könnte.
Platzierung im Vormonat (9, 05/23)
Eine karibische Insel in den 70er Jahren. Ein Schwarzer Fischer, der gerne draußen auf dem Meer auf seiner Gitarre zupft. Und eine Meerfrau, die sich von seinem Spiel angezogen fühlt. Man kann umöglich mehr vom Plot verraten, ohne die Spannung wegzunehmen. Man muss tatsächlich in dieses Buch eintauchen, untertauchen und sich mitnehmen lassen in diese besonderen Ereignisse um den Fischer und die Meerfrau. Dieses Buch ist brutal, voll mit Rassismus und doch so voller Liebe und puren Emotionen. Sprachlich brillant nimmt einen dieses Buch mit zu einer Metamorphose der besonderen Art, einer ungenierten Liebe und lässt die Leser*innen am Ende träumend und sehnend nach dem Meer zurück.
CN: Ableismus, Alkohol- & Drogenkonsum, Blut, Body Horror, Gefangenschaft, körperliche & sexualisierte Gewalt, Sex, Rassismus, Misogynie, Hurricane mit Flut, Klassismus, Emeto, Suizidalität
Platzierung im Vormonat (6)
In bestechend poetischer Sprache wird in Root Leebs Roman die Phantastik wirkungsvoll genutzt, um schlaglichtartig maximal viel über Menschenleben und ihren Verlauf zu zeigen. Die drei Dialogpartner:innen, die nach ihrem Tod auf dem Meeresgrund miteinander ins Gespräch kommen und Flashbacks auf ihre menschliche Existenz durchleben, sind unterschiedlicher Nationalität, unterschiedlichen Geschlechts und von unterschiedlichem Bildungsgrad – beweisen sich aber letztlich, dass ihre scheinbar so wenig vergleichbaren menschlichen Schicksale miteinander verbunden waren.
Platzierung im Vormonat (4)
Der Silvester in Berlin verläuft für die Fotografin Nico und die weltberühmte Schauspielerin Ellen im wahrsten Sinne des Wortes magisch. Eine flüchtige Begegnung streift das Gefühl der Seelenverwandtschaft und einer unerklärlichen Nähe an. Doch dann verschwindet Ellen plötzlich und Nico macht sich auf die Suche nach ihr. Und damit auch zu sich selbst. Eine Identitätssuche gepaart mit unausweichlicher politischer Positionierung in der Gesellschaft, bravourös verpackt in einen Magischen Realismus quer durch die Zeit.
CN: Alkohol- & Nikotinkonsum, Blut, Body Horror, körperliche und psychische Gewalt, Krebs, Misogynie, Rassismus, sexuelle Belästigung, Stalking, Suizid, Tod
Platzierung im Vormonat (8)
Mythologie-Nacherzählungen gibt es viele. Doch die sind meist sehr eurozentrisch. Nicht so „Rising Bahia“ von Mo Schneyder. Hier spielen die alten Göttinnen und Götter des Candomblé, einer afrokaraibischen Religion eine große Rolle. Denn im Reich des Südens, einem dystopischen Brasilien, das von einem konservativen weißen Mann regiert wird, sind sie bedroht. Ob Jul, die in Deutschland aufgewachsen ist und jetzt ein Praktikum in Salvador de Bahia macht, da helfen kann?
CN: Geburt, Blut, Tod, körperliche und psychische Gewalt
Platzierung im Vormonat (10)
In „Equilon“ lotet Sarah Raich die Konsequenzen der Klimakatastrophe in einem Near Future Setting aus. Dorian, Jenna und Co. versuchen in einer feindlichen Welt mit kochenden Meeren gegen menschliche Hürden wie Klimarassismus und -klassismus zu bestehen. Nur wer den Score des Algorithmus Equilon erreicht, darf ins komfortable New Valley – die Stadt der wissenschaftlichen Elite, die über das Leben der restlichen Bevölkerung bestimmt. Doch wer oder was definiert wirklich die Kriterien des Algorithmus? „Equilon“ ist eine erschreckende und lesenswerte Zukunftsstudie über die Gefährlichkeit von kalter Wissenschaftlichkeit, White Privilege, Speziezismus und essentialisierender Menschenfeindlichkeit.
CN: Ableismus, Rassismus, Sexismus, Transfeindlichkeit, körperliche & psychische Gewalt
Platzierung im Vormonat (9, 06/23)
Leipzig 1933: Der Buchhändler Jakob Steinfeld trifft auf Juli, die ihm ein geheimnisvolles Buch anvertraut und spurlos verschwindet. Leipzig 1943: Bombenangriff auf Leipzig, das Graphische Viertel brennt. Inmitten des Chaos entkommt ein Junge ohne Vergangenheit seinem Gefängnis. München 1971: Der Junge ist zu Robert Steinfeld herangewachsen und entdeckt bei einer Bibliotheksauflösung Bücher, die gar nicht existieren dürften. Kai Meyer wandelt auf den Spuren von Carlos Ruiz Zafón und erzählt auf drei Zeitebenen ein halb vergessenes Stück Geschichte auf phantastische Art.
CN: Feuer, körperliche & psychische Gewalt an Erwachsenen und Kindern, Gefangenschaft, Zweiter Weltkrieg & Nazizeit, Nazi-Ideologie (darunter das Projekt Lebensborn), Antisemitismus, Alkohol, physische & psychische Krankheiten, Mord, Blut, Leichen
Platzierung im Vormonat (-)
Großartige phantastische Unterhaltung muss nicht immer aufregend sein. Jana Paradigi beweist das im Auftakt ihrer neuen Reihe. Mina Moningham erbt überraschend ein altes Schulhaus und muss sich plötzlich in einer ganz neuen magischen Rolle zurechtfinden. Cozy Urban Fantasy vom Feinsten, die sich wie eine warme Decke um die Lesenden legt und dabei ganz nebenbei die Grenzen von Freiheit und Gebundenheit, Einsamkeit und Familie auslotet.
CN: Schleim
Platzierung im Vormonat (7)
Jess soll in väterlichem Auftrag die Bibliothek von Alexandria infiltrieren. Diese erhebt nicht nur Anspruch auf alle Bücher der Welt, sondern bestimmt auch mit magischen Mitteln, welche Bücher überhaupt zugänglich sind. Als Jess gemeinsam mit sehr diversen Mitstudierenden die Ausbildung an der Bibliothek beginnt, bleiben viele Fragen unbeantwortet. Meisterhaft und actionreich erzählt Rachel Caine vor dem Hintergrund eines alternativen Geschichtsverlaufs von der Macht eines Wissensmonopols.
Platzierung im Vormonat (9)
Schreibe einen Kommentar